Es ist das Jahr 1828. Mörike ist 23 ½ Jahre alt. Er versucht, aus dem Vikariat auszubrechen, dem Pfarrdienst insgesamt zu entkommen. Aber wie? Sein größter Wunsch ist, eine Anstellung beim großen Cotta-Verlag zu bekommen. Oder auch bei anderem Verlag. Aber nichts tut sich auf. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich aus Krankheitsgründen beurlauben zu lassen. Es klappt. Mit der Bescheinigung in der Hand, die wie ein Freibrief, wenn auch nur für Wochen ausgestellt, für ihn ist, geht er im Februar 1828 zu seinem älteren Bruder Karl und dessen Frau Dorothee, von allen Dorchen genannt, nach Scheer und nistet sich ein.
Karl ist Amtmann mit Sitz in Scheer, bei Thurn- und Taxis angestellt. Zu dritt wohnen sie im Oberamtshaus, Hauptstraße 14 (siehe Station 1). In dem 900 Einwohner zählenden, katholischen Städtchen wohnen insgesamt vier Evangelische. Zwei davon sind Dorchen und Karl. Eduard zählt als Gast nicht mit.
Dorchen ist schwanger. Sie erwartet ihr zweites Kind. Das erste, mit Namen Friedrich, ist mit nicht einmal einem Jahr gestorben. Eduard beobachtet, wie angespannt sie ist.
Er wohnt in einer Stube unter dem Dach. Nach einer schlaflosen Nacht steht er am Fenster und schreibt Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir (siehe Station 1), findet erst Ruhe als er die Glocken der nahegelegenen Kirche St. Nikolaus hört mit der Tonfolge es-g-b, der Tonfolge von „Wachet auf, ruft uns die Stimme“.
Bald freundet sich Eduard mit dem katholischen Stadtpfarrer Michael Protasius Wagner an. Dessen weißes Habit zeigt, dass er dem Orden der Zisterzienser angehört. Eduard erfährt, dass Wagner Professor für Philosophie in Salem war, jetzt aber, mit seinen 70 Jahren, als Geistlicher in Scheer tätig ist. Immer wieder treffen sie sich im Pfarrgarten, in der Laube (siehe Station 3). Der heutige Standort der Laube ist nicht ursprünglich. Der Pfarrgarten lag unterhalb des jetzigen Standortes und ist öffentlich nicht zugänglich.
Vielleicht passiert es im Pfarrgarten: Er begegnet einem Mädchen, das er zuerst Jorinde, dann Josephine nennt. Wer ist sie? Die Tochter des Schulmeisters? In der Mörikeforschung ist es umstritten, ob es sie wirklich gab. Aber was heißt wirklich? In den Gedichten ist sie ja da. Das reicht. Es sind sinnliche, erotische Gedichte. Wie ist das eigentlich mit dem Erwachen der Liebe bei einem Menschen? Das beantwortet er in seinem ersten Gedicht von Scheer mit dem Titel Liebesvorzeichen (siehe Station 4).
In den Gedichten entwickelt sich eine intensive Liebesbeziehung. Wir erleben die nächste Situation der Liebesbeziehung: Josephine singt solo in der Kirche (siehe Station 2). Er wird von ihrem Gesang so angezogen, dass er zur Empore hinaufeilt und sie umfasst. So entsteht das Gedicht Josephine, in dem Das Hochamt, das auf den ersten Sonntag im Mai terminiert ist, wie auch das Maifest in Scheer also, bei dem alles mit Flieder geschmückt ist. Nicht wie sonst in allen Publikationen in denen Fronleichnam genannt wird.
Bald trifft er sich mit Josephine auf ihrem Frühlingshügel (siehe Station 10). Er fragt sich im Gedicht, ob er überhaupt offen sei für eine neue Liebe. Seine bisherigen Beziehungen sind gescheitert. Er fragt sich auch, ob die Liebe überhaupt bleibt? So schaut er zum Himmel, beobachtet die Wolken, wie sie am Himmel ziehen und urteilt, die alleinzige Liebe direkt anredend: Doch Du und die Lüfte – haben kein Haus.
Mit Josephine lernt er aber, dass es die Liebe sehr wohl gibt - auf Zeit. Aber wie weh wird es tun, wenn er sie wieder verliert? Das hält er im Gedicht Heimweh fest (siehe Station 12). Seine ausgeprägte Verlustangst indes spiegelt sich im Gedicht Zwei Liebchen, die auf der Donau im Kahn nebeneinandersitzen und am Schluss ins Wasser fallen (siehe Station 5): Die Liebchen schwimmen todt an’s Land / Er hüben und sie drüben.
Im Gedicht Mein Fluss (siehe Station 6) wird die körperliche Liebe mythologisch personifiziert dargestellt – der Fluss ist natürlich die Donau.
Als Ende Mai Dorchen mit einem Jungen niederkommt, der ebenfalls auf den Namen Friedrich getauft wird, zieht er, wie mit Bruder Karl vereinbart, zu Vetter Heinrich und dessen Frau Adelheid ins nahe gelegene Buchau um. Eduard wird immer wieder mit Kutsche oder Fußmarsch nach Scheer zurückgekommen sein, um Josephine zu sehen. Wenn es sie gab. Jetzt sind wir im Juli 1828. Inzwischen ist er Reisebegleiter seines Onkels geworden - dem Onkel Prokurator, wie er in der Familie genannt wird - und kommt noch einmal nach Scheer. Er verabschiedet sich – endgültig. Für immer?
In Stuttgart angekommen versucht er eine neue Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen – und scheitert. Nach einem halben Jahr kehrt er reuig in den Pfarrdienst zurück, wird Pfarrvikar in Pflummern. Ist es Zufall? Pflummern ist nur ein Augenwurf von Scheer entfernt ……….
Die Zeit in Scheer und in Oberschwaben ist für ihn eine Ausnahmezeit: Unbeschwert und selig, ja trunken.
Vorwort von Alexander Köhrer
(Autor der Mörike-Erzählung „Josephine – Mörikes Liebe“)
Eduard Mörike kam hier im Amtshaus bei seinem Bruder Karl Mörike, dem Amtmann mit Sitz in Scheer, und dessen Ehefrau Dorothea Mörike, geb. Bezzenberger unter, wohnte bei ihnen von Februar bis Mai 1828 und bezog eine Schlafkammer. Hier entstand folgendes Gedicht mit dem Klang der nahen Glocken der St. Nikolaus-Kirche von Scheer.
Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
Dort gehet schon der Tag herfür
An meinem Kammerfenster.
Es wühlet mein verstörter Sinn
Noch zwischen Zweifeln her und hin
Und schaffet Nachtgespenster.
-Ängste, quäle
Dich nicht länger, meine Seele!
Freu dich! schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.
Eduard Mörike, Scheer 1828
Mörike besuchte das Hochamt zum Maifest in der Nikolauskirche. Er hört seine geliebte Josephine Solo singen, rennt in Gedanken die Emporen hinauf, tritt hinter sie und berührt ihr festliches Kleid.
Das Hochamt war. Der Morgensonne Blick
Glomm wunderbar im süßen Weihrauchscheine;
Der Priester schwieg; nun brauste die Musik
Vom Chor herab zur Tiefe der Gemeine.
So stürzt ein sonnetrunkner Aar
Vom Himmel sich mit herrlichem Gefieder,
So läßt Jehovens Mantel unsichtbar
Sich stürmend aus den Wolken nieder.
Dazwischen hört ich eine Stimme wehen,
Die sanft den Sturm der Chöre unterbrach;
Sie schmiegte sich mit schwesterlichem Flehen
Dem süß verwandten Ton der Flöte nach.
Wer ists, der diese Himmelsklänge schickt?
Das Mädchen dort, das so bescheiden blickt.
Ich eile sachte auf die Galerie;
Zwar klopft mein Herz, doch tret ich hinter sie.
Hier konnt ich denn in unschuldsvoller Lust
Mit leiser Hand ihr festlich Kleid berühren,
Ich konnte still, ihr selber unbewußt,
Die nahe Regung ihres Wesens spüren.
Doch, welch ein Blick und welche Miene,
Als ich das Wort nun endlich nahm,
Und nun der Name Josephine
Mir herzlich auf die Lippen kam!
Welch zages Spiel die braunen Augen hatten!
Wie barg sich unterm tiefgesenkten Schatten
Der Wimper gern die rosge Scham!
Und wie der Mund, der eben im Gesang
Die Gottheit noch auf seiner Schwelle hegte,
Sich von der Töne heilgem Überschwang
Zu mir in schlichter Rede herbewegte!
O dieser Ton – ich fühlt es nur zu bald,
Schlich sich ins Herz und macht es tief erkranken;
Ich stehe wie ein Träumer in Gedanken,
Indes die Orgel nun verhallt,
Die Sängerin vorüberwallt,
Die Kirche aufbricht und die Kerzen wanken.
Eduard Mörike, Scheer 1828
Hier in der Laube traf sich Mörike mit dem katholischen Stadtpfarrer Michael Protasius Wagner. Mit ihm lässt sich wunderbar reden. Bald erfährt er, dass Wagner als Professor der Philosophie im Zisterzienserkloster in Salem tätig war. Wagner verabschiedet sich: Meine Tür, junger Freund, steht für Sie stets offen. Hier traf er vermutlich auch erstmals auf Josephine und wusste, dass ihre braunen Augen ihn nicht mehr loslassen würden.
Seit Tagen kein Zeichen von Josephine. Wie auch, beruhigt er sich, hat sie ihr Ausbleiben doch angekündigt. Ihn zieht es dennoch zur Laube. Vielleicht ist Wagner ja da. Er könnte ihn fragen, ob es für ihn nie Zweifel auf seinem beruflichen Weg gegeben habe. Warum ist er nicht Professor geblieben, warum wollte er Gemeindepfarrer werden? Er zählt auf dem Weg dorthin, so wie er es sich vorgenommen hatte, die Stufen. Bis zum Kirchhof sind es 76. Er schlendert am Pfarrhaus entlang, bleibt stehen, betrachtet ausführlich das Ensemble: Das zweigeschossige Pfarrhaus, mit Fachwerk und einem Krüppelwalmdach, späte Gotik. Daneben liegt die Kaplanei. Schräg gegenüber ist das Gebäude, in dem die Schulen untergebracht sind: Das Lange Kaplaneihaus. Hinter einem der vielen Fenster könnte Josephine wohnen.
Er hat Glück. Der Durchgang zum Garten ist offen. Wagner wird da sein.
Wagner freut sich, als er ihn kommen sah. Was für eine Freude, mein junger Freund stellt sich wieder ein. Gerade zur richtigen Zeit. Ich habe eine Frage an Sie. Setzen Sie sich.
Wagner deutete mit der Hand auf den Platz ihm gegenüber. Wagner räusperte sich. Ich beginne einen Satz und Sie ergänzen. Eduard nickt erwartungsvoll.
Wenn Goethe stirbt...
… dann übernimmt Heine die Macht.
Wagner legte sofort nach: Wenn Heine die Macht übernommen hat...
… dann müssen wir alle politisch dichten.
Wagner lachte. Dichten und Müssen geht nicht.
Eben.
Im Pfarrgarten könnten die ersten Treffen mit Josephine geschehen sein. In seinen Gedichten nennt er sie zuerst Jorinde, dann Josephine.
Ich stand am Morgen jüngst im Garten
Vor dem Granatbaum sinnend still;
Mir war als müßt ich gleich erwarten,
Ob er die Knospe sprengen will.
Sie aber schien es nicht zu wissen,
Wie mächtig ihr die Fülle schwoll,
Und daß sie in den Feuerküssen
Des goldnen Tages brennen soll.
Und dort am Rasen lag Jorinde;
Wie schnell bin ich zum Gruß bereit,
Indes sie sich nur erst geschwinde
Den Schlummer aus den Augen streut!
Dann leuchtet dieser Augen Schwärze
Mich an in lieb- und guter Ruh,
Sie hört dem Mutwill meiner Scherze
Mit kindischem Verwundern zu.
Dazwischen dacht ich wohl im stillen:
Was hast du vor? sie ist ein Kind!
Die Lippen, die von Reife quillen,
Wie blöde noch und fromm gesinnt!
Fürwahr, sie schien es nicht zu wissen,
Wie mächtig ihr die Fülle schwoll,
Und daß sie in den Feuerküssen
Des kecksten Knaben brennen soll.
Still überlegt ich auf und nieder
Und ging so meiner Wege fort;
Doch fand der nächste Morgen wieder
Mich zeitig bei dem Bäumchen dort.
Mein! wer hat ihm in wenig Stunden
Ein solches Wunder angetan?
Die Flammenkrone aufgebunden?
Und was sagt mir dies Zeichen an?
Ich eile rasch den Gang hinunter,
Dort geht sie schon im Morgenstrahl;
Und bald, o Wunder über Wunder!
Wir küßten uns zum erstenmal.
Nun trieb der Baum wohl Blüt auf Blüte
Frisch in die blaue Luft hinaus,
Und noch, seitdem er lang verglühte,
Ging uns das Küssen nimmer aus.
Eduard Mörike, Scheer 1828
Vielleicht unternahm er auch selbst eine Kahnfahrt. Hier könnte die Anlagestelle gewesen sein. Jedenfalls entsteht das Gedicht Zwei Liebchen.
Ein Schifflein auf der Donau schwamm,
Drin saßen Braut und Bräutigam,
Er hüben und sie drüben.
Sie sprach:» Herzliebster, sage mir,
Zum Angebind was geb ich dir?«
Sie streift zurück ihr Ärmelein,
Sie greift ins Wasser frisch hinein.
Der Knabe, der tät gleich also,
Und scherzt mit ihr und lacht so froh.
»Ach, schöne Frau Done, geb sie mir
Für meinen Schatz eine hübsche Zier!«
Sie zog heraus ein schönes Schwert,
Der Knab hätt lang so eins begehrt.
Der Knab, was hält er in der Hand?
Milchweiß ein köstlich Perlenband.
Er legts ihr um ihr schwarzes Haar,
Sie sah wie eine Fürstin gar.
»Ach, schöne Frau Done, geb sie mir
Für meinen Schatz eine hübsche Zier!«
Sie langt hinein zum andermal,
Faßt einen Helm von lichtem Stahl.
Der Knab vor Freud entsetzt sich schier,
Fischt ihr einen goldnen Kamm dafür.
Zum dritten sie ins Wasser griff:
Ach weh! da fällt sie aus dem Schiff.
Er springt ihr nach, er faßt sie keck,
Frau Done reißt sie beide weg:
Frau Done hat ihr Schmuck gereut,
Das büßt der Jüngling und die Maid.
Das Schifflein leer hinunterwallt;
Die Sonne sinkt hinter die Berge bald.
Und als der Mond am Himmel stand,
Die Liebchen schwimmen tot ans Land,
Er hüben und sie drüben.
Eduard Mörike, Scheer 1828
Die Donau kommt in den Gedichten Mörikes von 1828 gleich zweimal, vielleicht sogar dreimal vor. Hier ein Gedicht, in dem sich die Liebe zu Josephine spiegelt.
O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl!
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange!
- Er fühlt mir schon herauf die Brust,
Er kühlt mit Liebesschauerlust,
Und jauchzendem Gesange.
Es schlüpft der goldne Sonnenschein
In Tropfen an mir nieder,
Die Woge wieget aus und ein
Die hingegebnen Glieder;
Die Arme hab ich ausgespannt,
Sie kommt auf mich herzugerannt,
Sie faßt und läßt mich wieder.
Du murmelst so, mein Fluß, warum?
Du trägst seit alten Tagen
Ein seltsam Märchen mit dir um
Und mühst dich, es zu sagen;
Du eilst so sehr und läufst so sehr,
Als müßtest du im Land umher,
Man weiß nicht wen, drum fragen.
Der Himmel, blau und kinderrein,
Worin die Wellen singen,
Der Himmel ist die Seele dein:
O laß mich ihn durchdringen!
Ich tauche mich mit Geist und Sinn
Durch die vertiefte Bläue hin
Und kann sie nicht erschwingen!
Was ist so tief, so tief wie sie?
Die Liebe nur alleine.
Sie wird nicht satt und sättigt nie
Mit ihrem Wechselscheine.
- Schwill an, mein Fluß, und hebe dich!
Mit Grausen übergieße mich!
Mein Leben um das deine!
Du weisest schmeichelnd mich zurück
Zu deiner Blumenschwelle.
So trage denn allein dein Glück
Und wieg auf deiner Welle
Der Sonne Pracht, des Mondes Ruh:
Nach tausend Irren kehrest du
Zur ewgen Mutterquelle!
Eduard Mörike, Scheer 1828
Hier könnte Mörike auf dem Weg zum Liebeshügel verweilt haben. An dieser Stelle entstand zwar kein Gedicht, aber folgendes Gedicht spiegelt seine Grundfrage der Liebe wider.
Fragst du mich, woher die bange
Liebe mir zum Herzen kam,
Und warum ich ihr nicht lange
Schon den bittern Stachel nahm?
Sprich, warum mit Geisterschnelle
Wohl der Wind die Flügel rührt,
Und woher die süße Quelle
Die verborgnen Wasser führt?
Banne du auf seiner Fährte
Mir den Wind in vollem Lauf!
Halte mit der Zaubergerte
Du die süßen Quellen auf!
Eduard Mörike, Scheer 1828
Ende Juli 1828 muss Mörike sich endgültig von seiner Josephine verabschieden. Für immer? Im Februar 1829 wird ihm die Pfarrstelle in Pflummern vertretungsweise übertragen. Ein Zufall? Wohl kaum. So ist er noch einmal in ihrer Nähe. Sein bekanntestes Frühlingsgedicht entsteht.
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
- Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!
Eduard Mörike, Pflummern 1829
Hier ging Mörike seinen Träumen nach und könnte sich mit seiner Josephine getroffen haben. Aber ist er überhaupt offen für die neue Liebe? Ist nicht die erste Liebe zu seinem Clärle oder die Liebe zu Maria zu stark?
Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel:
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
Ach, sag mir, all-einzige Liebe,
Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.
Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,
Sehnend,
Sich dehnend
In Lieben und Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd ich gestillt?
Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun, als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.
Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was:
Halb ist es Lust, halb ist es Klage;
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
- Alte unnennbare Tage!
Eduard Mörike, Scheer 1828
Der Weg führt weiter den Berg hinauf bis zur höchsten Stelle der Rundwanderung, wo er scharf nach rechts abzweigt. An der Stelle lohnt es sich, einen kleinen Abstecher zu der Sitzgruppe am Erratischen Block zu machen und eine Vesperpause einzulegen.
Der scharfen Biegung folgend geht die Route über den Schotterweg, der bald in einen geteerten Weg übergeht. Vorbei oberhalb eines landwirtschaftlichen Anwesens erreicht man linkerhand die Station 10, die einen überwältigenden Blick auf die Stadt mit Kirche und Schloss bietet.
Erwärmt von der Sonne und einem wohligen Gefühl zu Josephine, stellt sich Mörike sehr wohl die Frage, ob die Liebe allein mit Küssen zu stillen ist.
So ist die Lieb'! So ist die Lieb'!
Mit Küssen nicht zu stillen:
Wer ist der Tor und will ein Sieb
Mit eitel Wasser füllen?
Und schöpfst du an die tausend Jahr'
Und küssest ewig, ewig gar,
Du tust ihr nie zu Willen.
Die Lieb', die Lieb' hat alle Stund'
Neu wunderlich Gelüsten:
Wir bissen uns die Lippen wund,
Da wir uns heute küßten.
Das Mädchen hielt in guter Ruh',
Wie's Lämmlein unterm Messer,
Ihr Auge bat: »Nur immer zu!
Je weher, desto besser!«
So ist die Lieb'! und war auch so,
Wie lang' es Liebe gibt,
Und anders war Herr Salomo,
Der Weise, nicht verliebt.
Eduard Mörike, Scheer 1828
Möglicherweise ein Versöhnungsgedicht zu den Ehestreitigkeiten von Karl und Dorothea Mörike, geb. Bezzenberger
Drei Tage Regen fort und fort,
Kein Sonnenschein zur Stunde;
Drei Tage lang kein gutes Wort
Aus meiner Liebsten Munde!
Sie trutzt mit mir und ich mit ihr,
So hat sies haben wollen;
Mir aber nagts am Herzen hier,
Das Schmollen und das Grollen.
Willkommen denn, des Jägers Lust,
Gewittersturm und Regen!
Fest zugeknöpft die heiße Brust
Und jauchzend euch entgegen!
Nun sitzt sie wohl daheim und lacht
Und scherzt mit den Geschwistern;
Ich höre in des Waldes Nacht
Die alten Blätter flüstern.
Nun sitzt sie wohl und weinet laut
Im Kämmerlein, in Sorgen;
Mir ist es wie dem Wilde traut,
In Finsternis geborgen.
Kein Hirsch und Rehlein überall!
Ein Schuß zum Zeitvertreibe!
Gesunder Knall und Widerhall
Erfrischt das Mark im Leibe.
Doch wie der Donner nun verhallt
In Tälern, durch die Runde,
Ein plötzlich Weh mich überwallt,
Mir sinkt das Herz zu Grunde.
Sie trutzt mit mir und ich mit ihr,
So hat sies haben wollen;
Mir aber frißts am Herzen hier,
Das Schmollen und das Grollen.
Und auf! und nach der Liebsten Haus!
Und sie gefaßt ums Mieder!
"Drück mir die nassen Locken aus
Und küß und hab mich wieder!“
Eduard Mörike, Scheer 1828
Ende Mai bricht Mörike nach Buchau auf, wird dort einige Zeit bei seinem Vetter Heinrich Mörike und dessen Frau Adelheid wohnen. Er verspricht seiner Josephine, immer wieder zu kommen. Als Mörike nach Bad Buchau aufbricht, merkt er schon nach wenigen Metern, dass der Abschied ihm unmöglich wird.
Anders wird die Welt mit jedem Schritt,
Den ich weiter von der Liebsten mache;
Mein Herz, das will nicht weiter mit.
Hier scheint die Sonne kalt ins Land,
Hier deucht mir alles unbekannt,
Sogar die Blumen am Bache!
Hat jede Sache
So fremd eine Miene, so falsch ein Gesicht.
Das Bächlein murmelt wohl und spricht:
»Armer Knabe, komm bei mir vorüber,
Siehst auch hier Vergißmeinnicht!«
- Ja, die sind schön an jedem Ort,
Aber nicht wie dort!
Fort, nur fort!
Die Augen gehn mir über!
Eduard Mörike, Scheer 1828